Lemontree

Hallo lieber Leser,

Dies ist mein vorletzter Tagebucheintrag, ein kleiner Rückblick auf den Abschied von Norwegen, jetzt, da ich schon genügend Abstand davon nehmen konnte. Mittlerweile bin ich wieder seit gut 5 Wochen in Deutschland. Die Zeit fliegt dahin - wie das so häufig der Fall ist, wenn man die Seele baumeln lässt und in den Tag hinein lebt, die Stunden einatmet und sich in dem Gefühl sonnt, nichts von weltbewegender Dringlichkeit zutun zu haben. Die ersten Wochen im Haus meiner Eltern standen ganz im Zeichen der Spontanität und haben mir drastisch vor Augen geführt, was ich doch während den letzten Monaten am College entbehrt hatte: eine gewisse Leichtigkeit, Mut zum Müßiggang und den Biss, mal ganz gezielt locker zu lassen... Es hat mir ehrlich gesagt gefallen, strukturiert, erfüllt von Tatendrang, mit dem Ehrgeiz mich selbst zu übertreffen die Tage anzugehen. Während der Prüfungswochen habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, meinen Wecker so zu programmieren, dass er mich morgens mit Worten wie "Das ist dein Tag! Aufstehen, rumlaufen, glücklich sein!" weckte. Heute verstehe ich, dass diese Art des Ansporns so ziemlich das in Worte fasst, was auch meine Mutter mir bis vor einigen Jahren täglich beim Aufwachen ins Ohr flüsterte. Wer von zuhause auszieht, muss sich dieses kuschelige Aufwecken irgendwie ersetzen. Ein bisschen traurig ist es schon, wenn mit dem Auszug Familienrituale kalter Kabelmasse Platz machen.  

Mit Abschluss der Prüfungen habe ich langsam wieder zurück von der intensiven Konzentrationsphase zu dem UWC-Abschnitt gefunden, den man vielleicht "Abschied-Erleben" nennen mag. Das sind die Tage zwischen der letzten Prüfung und der letzten Umarmung einer Freundin am Flughafen. Sie sind mindestens genau so wichtig, wie das Ankommen und Auspacken. Man sollte meinen, dass es mir leicht gefallen sei, die Blende von der einen zur anderen Phase zu überstehen. 

Nein.

Die letze Prüfung von, wenn mich nicht alles täuscht, 17 Klausuren - Deutsch - war die schlechteste. Ich war nur mit Meta und einem Aufseher im Prüfungsraum und die Luft war irgendwie raus. Ich konnte mich schon im Vorfeld nur schwer konzentrieren, habe rumgeblödelt und versucht, die anstehende Erläuterung auf die leichte Schulter zu nehmen. Gut vorbereitet war ich allemal, aber die Aufgabenstellung war abstrakt und es fiel mir schwer, auf den Punkt zu kommen. Mitten in der Prüfung war jemand in der an den Raum angeschlossenen Küche am Werkeln, es klapperten Töpfe und das Geräusch mischte sich mit einem Ohrwurm und den viel zu lauten Gedanken in meinem Kopf zu dem, was Lindsay Lohan in irgend einer Hollywoodkomödie als "Wortkotze" bezeichnet.

Ich wäre so gerne erhobenen Hauptes und mit einem erleichterten, zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht aus der Prüfungsphase geschwebt. Stattdessen hatte ich einen Kloß im Hals und das starke Gefühl, mir selbst in meiner Muttersprache nicht gerecht geworden zu sein. Alles was getan werden konnte, war zwangsläufig getan und so erschien es mir, als gleite mir mit dem Schlusspfiff alles aus den Händen. Am Telefon jubilierte meine Mutter in der Erwartung, ein Echo durch den Hörer zu empfangen. Später rief mein Vater an, von Maman geschickt, mir ins Herz zu hören und wie so häufig war er auf der richtigen Wellenlänge. Das einzige was mir zu tun übrig blieb, war zu glauben, dass es vielleicht gar nicht so schlimm gewesen war, ich einfach nach dem wochenlangen Höhenflug die Verbindung zum Boden verloren hatte und mit zu großen Erwartungen an mich selbst das Ganze angegangen war. Und zu verdrängen, was sich nun eh nicht mehr revidieren ließ.

Es war, wie gesagt, aus diesem Grund nicht leicht, die Transition von Anspannung zu Entspannung zu meistern. Lebhaftes Programm mit neuen thematischen Schwerpunkten, die Stimulierung unlängst vernachlässigter Hirnregionen im limbischen System, sprich Kreativität und freilaufende Emotionen, machten es mir aber leichter. Heute, Wochen später, sind mir besonders das Triokonzert im Auditorium sowie die Abschlusszeremonie im Gedächtnis geblieben. Es waren genau die richtigen Leute gekommen. Somit bewahrheitete sich bis zum Schluss das, was einer der Organisatoren des Zero-Firstyear Treffens in den allerersten UWC-Stunden meines Lebens auf ein Plakat geschrieben hatte: "Die, die da sind, sind genau die Richtigen." In dem konkreten Fall waren das dann Lieblingslehrer, Freunde und diejenigen, mit denen man im Alltag mehr gemeinsam hatte als das Kantinenessen. Ich habe noch nie so gut konzertiert, glaube ich. Das Solostück war zittrig und es war schwer, sich nicht vom Lampenfieber, das sich unmittelbar beim Heben des Flügeldeckels einstellte, übermannen zu lassen. Nicht ohne Grund spiele ich eigentlich lieber in Ensembles. Beethovens erste Triosonate war ein dankbares Stück und dankbar war auch das Publikum. Mein sonst eher zurückhaltender und ur-britischer Biolehrer Alistair drückte sich in einer Dankesemail nach der Aufführung so aus: "This was . . . simply . . . purely  . . . profoundly  ... beautiful." Alles in Allem ein sehr gelungenes Goodbye und meinerseits auch ein Abschied von einem Steinway-Flügel, wie ich ihn so bald wohl nicht mehr in die Finger kriege. 

Höhepunkt der letzten Tage am College war natürlich die Abschiedszeremonie, eine festliche, tränenreiche und zeitweise skurrile Veranstaltung. Während der Generalprobe befassten wir 100 Absolventen und die Co-rektorin uns mit der Frage, wie wir uns in eine Reihe würden stellen müssen, um alle auf die Stufen des Auditoriums zu passen. Da wurde gedrängelt und gekuschelt und auch ich ging auf Tuchfühlung mit Andreas und Amanisa, im Alphabet und schließlich auch auf der Treppe jeweils vor- und hinter mir. 

Gastredner des Tages war Father Joe vom Mercy Centre in Bangkok, Thailand, das jährlich einen Schüler ans College schickt. Ein Mann in den Siebzigern mit Bäffchen und amerikanischem Akzent. Ein weltweit anerkannter Redner, dessen Lebensgeschichte bald verfilmt werden sollen, einer, der sich verdient gemacht hat im Namen der Menschheit. Taten getrieben von Werten, die sich inhaltlich nur ganz ansatzweise in seiner Ansprache niederschlugen. Viel hängen geblieben ist nicht, dabei saß ich doch mit weit offenen Ohren dort, und lauschte, auf ein weises Geleitwort zum Abschied hoffend. Es ging primär um den Herr der Ringe, und wie das Reich der Hauptfiguren der Umgebung des Colleges doch gleiche, und dass wir ja nun eigentlich auch Helden seien, die gegen Trolle und Orgs kämpfen müssen. Dabei ging er immer wieder auf und ab, wiederholte sich viel und war ganz offensichtlich nicht vorbereitet. Es war ein höchst seltsames Schauspiel und amüsant, während der Rede in den Gesichtern aller geladenen Gäste, der Lehrer und des Vorstands eine Mischung aus Begeisterung und Entgeisterung zu sehen. In den Reihen der Absolventen kursierten schnell leise geflüsterte Gerüchte. Ob er denn....? Aber nein... er konnte doch nicht.....

Viel anrührender war dann aber die Rede des ebenfalls abgehenden Mathelehrers Kip, der auf ganz charmante Art und Weise mathematische Problemstellungen und die Theorie des Abschiednehmens miteinander zu einem bewegenden Geflecht aus Worten, Mimik und Gestik verwob. Inhaltlich auf traditionellerem Terrain bewegte sich die neugewählte Vorsitzende des College Vorstandes, und mit der Ansprache der Mitschüler Márcio und Irene waren Lachtränen dann endgültig Tränen der Rührung gewichen. Während der Urkundenübergabe präsentierten sich dem Publikum aus Firstyears und Eltern noch vornehmend andächtig lächelnde Gesichter. Aber der Auftritt des Chors sowie eine Tanzaufführung durch das Tanzensemble der Secondyears, bei dem alle Tänzer selbst ihre Tränen nicht mehr zu beherrschen wussten, gab vielen, die sich tapfer zurück gehalten, hatten den Rest. Für den Außenstehenden ist die Dynamik, die sich in diesem Saal entwickelte, schwer nachvollziehbar. Zum einen ist da die Endgültigkeit des Abschieds von einem Ort, der nur dann wirklich zu atmen, zu vibrieren scheint, wenn man selbst ein Teil von ihm ist. Und man wird sich langsam all der Anstrengungen, die man gemeinsam gemacht hat, bewusst. Die Firstyears scheinen traditionell schlimmer zu leiden als die abgehenden Secondyears, die so hungrig auf neues sind. Und wenn man sie dort in den Rängen leise weinen sieht, dann sind auch die eigenen Tränendrüsen - sei es aus Selbstmitleid oder Solidarität oder Rührung oder Überwältigung - schnell angezapft. Ich habe die Tränen lange unterdrückt und war ganz eingenommen von den vielen anerkennenden Gesichtern in der Menge, die mal zu einer wogenden Masse verschmolzen, mal ganz eindeutig aus indirekt vertrauten Visagen von Familienangehörigen bestand. Stolz, Ehrfurcht und die aufregend geladene Stimmung ließen mich innerlich mal strahlen, mal erbeben. 

Der Zeremonie folgte das große Umarmen, Jahrbücheruterschreiben etc. Neben all der verlaufenden Wimperntusche, die sich im Gemänge tümmelte, habe ich mich seltsam klar und mit der Situation im Reinen gefühlt. Natürlich war alles sehr bewegend, aber ich war in keiner Weise verstört, erschüttert oder gar verzweifelt. Es war gut so. Es war gut, jetzt zu gehen. Zwei Jahre waren genau richtig.

Dabei hatte man mir am Vorabend prophezeit, ich würde wohl in der ein oder anderen Funktion wiederkommen. Die Abschiedsparty im Haus der längst vergangenen Cabinparties in Flekke fand das statt, was in Amerika vielleicht "Prom" wäre, also ein Festessen mit anschließender Möglichkeit, zu dancen. Tanzen wäre an dieser Stelle ein irreführendes Verb. In dem Rahmen wurden auch Urkunden verliehen, die den Ergebnissen einer geheimen Abstimmung über die Eigenschaften der Mitschüler entsprungen waren. Da gab es den Award für denjenigen, der mit der größten Wahrscheinlichkeit beim Jahrgangstreffen in 10 Jahren eine Glatze haben würde. Und eine Auszeichnung für das Pärchen, dass am ehesten eines Tages UWC-Kinder haben würde. Und dann war da eben die Auszeichnung für denjenigen, der am ehesten UWC-Lehrer werden würde - und das war ich. Ich musste schmunzeln, als ich aufgerufen wurde, hatte ich doch tatsächlich mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, zumindest für ein, zwei Jahre an ein UWC zurückzukehren. Vielleicht als Psychologielehrerin? Langfristig wäre das allerdings sicherlich nichts für mich. :-)

Nun bin ich wieder hier in Bielefeld und ich kann immer noch  nicht durch die Stadt tapern, ohne Bekannte oder Freunde zu treffen. Ein eindeutiger Indikator dafür, dass ich irgendwie auch noch ein bisschen in Deutschland zuhause bin. Meine IB-Ergebnisse gibt es schon morgen, und dann klärt sich endlich auch, wo ich im nächsten Jahr Wurzeln schlagen werde. Als wirklichen UWC-Abschluss sehe ich die Noten also nicht. Vielmehr geben sie den Startschuss in ein neues Bildungsabenteuer. Die Abrundung der Stipendiatenzeit gab aber die Absolventenfeier in Berlin vergangene Woche. Doch davon erzähle ich beim nächsten und dann auch letzten Mal!

 

Angelika

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Susanne (Freitag, 28 Oktober 2011 09:01)

    Liebe Angelika
    Ich habe Ihr Tagebuch über einen längeren Zeitraum mitverfolgt und war begeistert wir reif und eloquent Sie schreiben. Immer wieder mal habe ich nachgeschaut, ob Ihr letzter Eintrag schon erfolgt ist. Ich hoffe, Sie haben die Zulassung zu Ihrer Wunschuniversität erhalten und ich wünsche Ihnen von Herzen viel Erfolg im weiteren Leben. Ihren Blog zu lesen war wirklich ein Genuss und eine Bereicherung. MfG Susanne

  • #2

    Yrka (Dienstag, 17 Juli 2012 15:49)

    Thank you for info

  • #3

    Pati (Donnerstag, 15 August 2013 17:36)

    Hey du,

    darf ich fragen wie deine Abschlussnoten waren? :)
    Das würde mich sehr interessieren, wenn nicht ist es auch in Ordnung.

    Liebe Grüße Pati