Can't Buy me Love

Das obige Bild ist einem Ordner auf der internen Internetseite des Colleges entnommen. Zwischen "Exam 2009" und "Exam 2010" versprüht der mit "Exam answers funny" betitelte Link einen Hauch Fröhlichkeit, ein wenig Leichtigkeit. Die Fähigkeit, mit derartiger Selbstironie Hürden wie Abiturprüfungen anzugehen habe ich mir auch im Laufe meiner UWC-Zeit noch nicht aneignen können. Derzeit komme ich mir wie eine ferngesteuerte Figur in einem Computerspiel vor, die permanent Hindernissen ausweichen muss, manchmal mit dem Kopf voran die Mauern im Labyrinth durchzubrechen versucht anstatt den langen aber weniger schmerzhaften Weg einzuschlagen. Wenn ich nicht langsam wieder anfange Leben zu sammeln, dann heißt es bald GAME OVER...

Ich sehne mich nach nichts mehr als einem Erfolgserlebnis. Heute Morgen hielt ich meinen korrigierten Englischaufsatz mit  ernüchternden Kommentaren vollgeschmiert in den Händen. Schon wieder lässt sie an mir kein gutes Haar. Kein Wort über Verbesserungen, Fortschritte. Dabei muss sich seit meiner überraschend miesen Leistung während der Probeexamen doch etwas getan haben... Ich zwinge mich dazu, positiv zu denken, die Kommentare dankbar in mich aufzunehmen - und frage mich gleichzeitig immer, wie viele Aufsätze ich (zugegeben was schulische Rückschläge angeht nicht die Abgehärteste unter der Sonne) noch planen und einreichen will.

Es wird Zeit für Frühling. Der Schnee liegt hier nun schon seit einem halben Jahr und es würde mich nicht überraschen zu hören, dass jeder der 200 Schüler sich in den vergangenen Monaten  mindestens ein Mal ganz plötzlich und unerwartet auf dem Hosenboden wiedergefunden hat. Vorgestern wurde ich ganze vier Mal von dem "Eisschleicher Syndrom" heimgesucht und trage nun mehr oder weniger stolz blaue Flecken zur Schau. In einer e-Mail an einen englischen Freund, dem ich immer wieder spannende deutsche Wörter beibringe, erläuterte ich gestern "Schmetterling", ein wie ich finde sehr frühlingshaftes Wort, jedoch nicht nur weil wir das Auftauchen von Schmetterlingen mit Frühling verbinden. Auch der Aufbau des Wortes, die Kombination des fast schon lautmalerischen , harten "Schmetter" mit dem lieblichen "ling", das man auch in Worten wie Liebling und traditionell in vielen germanischen Sprachen als verniedlichende Nachsilbe findet, macht "Schmetterling" ein Wort des Übergangs von Winter zu Sommer - ein Frühlingswort.

Heute sind die Austernfischer wieder am College angekommen. Es ist erstaunlich, wie die Kolonien von den Küsten Spaniens und Englands jedes Jahr auf eine Woche pünktlich zurückkehren, angetrieben von einem Gespür für die Länge des Tages. Hier wartet man auf die Austernfischer. Als heute morgen die ersten gesichtet wurden, hing promt ein Foto am Schwarzen Brett. Ja, wir sehnen uns nach langen Tagen, Licht, Grün. Meine Augen haben sich noch immer nicht an das Weiß gewöhnt und bei gutem Wetter stapfen hier viele halb blind durch den Schnee, der die Sonne unbarmherzig, großzügig reflektiert. Wenn man an einen Schöpfer glauben möchte, kann man sagen, dass er sich das gut ausgedacht hat, das, mit der Farbe des Schnees undden Lichtverhältnissen während der Jahreszeit, in der er am häufigsten auftritt. Das nenne ich effiziente Lichtnutzung!

 

(ein paar Tage später)

Ein Tagebucheintrag sollte sich eigentlich nicht über mehrere Tage ziehen, aber ich werde mit diesem einfach nicht schnell genug fertig. Zu viele Dinge geschehen hier gleichzeitig und ich blättere vorsichtshalber ein Paar Seiten meines Kalenders zurück um zu rekapitulieren:

Gestern und vorgestern fanden für uns Secondyears die letzten Projekttage statt. Während die Beteiligung am Planspiel UN für Firstyears obligatorisch ist, können sich Secondyears noch ein mal auf ganz unterschiedliche  Weise austoben. Ich habe Montag und Dienstag je 7 Stunden Tonskulpturen geformt. Es war so unwahrscheinlich befriedigend, die Hände tief in das Material zu stossen und unterschiedliche Techniken auszuprobieren. Jedem der acht Teilnehmer standen 6,5 kg grauer Ton zur Verfügung. Zunächst durfen wir unserer Phantasie freien Lauf lassen und einen Kopf wie er spontan vor unseren Augen auftauchte formen. Das Ergebnis könnt ihr in den Märzfotos bewundern. Die Büste ist in etwa 20 cm hoch und ich war überrascht, wie ich ein Auge für Proportionen zu haben scheine. Die letzte Erfahrung, die ich mit Ton hatte, war das Scheitern an einer Schildkrötenskulptur im Kunstunterricht der 9. Klasse. Nachdem alle  meine Schildkröten in sich zusammengefallen waren, retteten meine Freundinnen meine Kunstnote indem sie kollektiv und 10 Minuten vor Abgabeschluss "meine" Schildkröte formten. Eine den Kopf, die andere den Panzer und bei den Füssen konnte sogar ich, zu dem Zeitpunkt den Tränen nahe, noch helfen... Ich habe auch tatsächlich eine 2+ bekommen und das Kunstwerk noch lange auf meinem Schreibtisch stehen haben. Eines Tages ist sie leider herunter gefallen und zerbröckelt. Um immer daran erinnert zu werden, wie Freunde zusammenhalten sollten, habe ich sie darauf hin durch eine professionell gefertigte Tonschildkröte ersetzt. Wenn ich so darüber nachdenke bereue ich eigentlich, sie nicht mit nach Norwegen genommen zu haben.

Nun, die Projekttage haben einmal mehr bewiesen, dass der Mensch lernfähig ist. Während ich an dem Kopf arbeitete und immer deutlicher wurde, dass ich da gerade einen alten Mann formte wurde mir klar, wie meine Hände ganz automatisch Gesichtszüge meiner beiden Grossväter modellierten. Die Verschmelzung ihrer Gesichter kaschiert das vielleicht. Solch ein Arbeitsprozess, eng verwoben mit persönlichen Gedanken und Gefühlen, hat mich ihnen auf ganz neue Art und Weise näher gebracht. Ein weiteres überraschendes Phänomen, das ich im Umgang mit Mitschülern während und nach den Projekttagen beobachtet habe ist, dass das Modellieren eines Kopfes unter Anleitung  einer erfahrenen Künstlerin die Wahrnehmung von Gesichtern verändert. Während des Projektes haben wir auch die antike Skulpturkkunst kennengelernt und erfahre, dass Römer und Griechen die Gesichter ihrer Statuen aus dem Material geschlagen haben nicht aufbauend gearbeitet haben, wo mir persönlich letzteres mehr liegt. Köpfe haben deswegen auch mit Nase und Stirn eine charakteristische Ei-form. Nasenbei und Stirn folgen ganz klar der Wölbung eines einzigen Eies. Unser dritter Kopf war fast schon kubistisch. Die Gesichtszüge waren die Kombination verschiedener glatter Flächen, sog. Ebenen (planes). Ich begann langsam zu verstehen, wie Kieferknochen, Schläfen, Nasenbein etc. im Verhältnis zueinander stehen und bin gespannt, ob ich nach dieser Übung tatsächlich fähig sein werde, bessere Skizzen von Gesichtern zu zeichnen. Die letzte Übung, das Modellieren eines Kopfes anhand eines lebenden Modells , bildete den Abschluss des Projektes und hat mein Verständnis von Proportionen und  Ebenen weiter ausgebaut. Obwohl unsere Schule einen Brennofen hat, werden wir nicht alle Köpfe aushölen und brennen. Die erste Büste möchte ich aber gerne gut gepolstert und mit gekreuzten Fingern nach Hause schicken.

 

Ein weiterer kleinen Höhepunkt der verganenen Tage war das südostasiatische Frühlingsfest "Holi", das wir am Sonntag zelebriert haben. Es ist Tradition, sich mit buntem Farbpuder zu beschmeissen, was wir tatsächlich auch (im norwegischen Regen) gemacht haben. Einige Fotos findet ihr hier. Im Drang zu radikaler Veränderung und aus Solidarität zu meiner Firstyear, die ihre Haare eine  Krebsorganisation spendet, habe ich mir einen sehr kurzen Haarschnitt zugelegt und es während Holi sehr genossen, mir keine Sorgen über ungewollte und hartnäckige Haarfarben Sorgen machen zu müssen und nach 2 Minuten unter der Dusche wieder eine reguläre Hautfarbe aufzuweisen. Nicht allen bunt bepuderten Mitschülern ging es genau so...

 

Neben dem üblichen Programm aus regulären Trioproben, Hausaufgaben, Aufsätzen und World Today Organisation (und Amtsübergabe) ist noch zu bemerken, dass das Musicals "Little Shop of Horrors" nach lange Vorbereitungszeit vergangenen Samstag endlich aufgeführt wurde. Irina, meine nepalesische Mitbewohnerin übernahm die weibliche Hauptrolle und im Vorfeld konnten wir beobachten, wie ihr die Proben zusetzten. Sie muss nebenbei auch noch ihre Theaterprojekte "über die Bühne bringen", was eine Menge Zeit in Anspruch nimmt, und war nach ganzen Probenwochenenden für Little Shop of Horrors extrem "groggi". Ich hoffe sehr, dass die Begeisterung des Publikums Balsam für die Seele war. Meine Mathelehrer hat Fotos der Performance allen Schülern zugänglich gemacht - ich habe sie nur noch nicht auf der öffentlichen Festplatte auftreiben können, werde sie aber so zeitig wie möglich online stellen.

 

Und damit wären wir wieder beim Internet angelangt und einem der vielen Vorteile virtueller Kommunikation. Ich bin nicht grundsätzlich gegen diese Form des Kommunizierens - immerhin schreibe ich ja Tagebuch im Netz... - aber was mir wichtig ist, ist dass trotz aller Sinnesüberreizung durch das Internet jeder Nutzer noch Raum findet, als Individuum mit der ganz eigener Note, dem eigenen Konzept seine Gedanken zu verbreiten. Besonders als mehrere der jüngsten Mitglieder der Familie UWC-Deutschland mir vor einigen Tagen ihre "Auslandshomepages" vorstellten konnte ich nicht anders als zu bemerken, dass sie in ihrem Format mit "Tagebuch", über den selben Homepageanbieter und teilweise mit fast identischem Design doch äusserlich sehr der meinen glichen. An sich ist das ja nicht verboten, nicht überraschend und stellt mich in keiner Weise in Frage. Und doch frage ich mich, was man tun könnte um jedem "user" den Mut und die Phantasie zu erhalten, die er braucht um seiner realen Individualität auch im Netz gerecht zu werden. Kreative und mutige Antworten wie sie oben auf dem Foto zu sehen sind werden sonst purer Resignation und einer trostlosen Gleichheit weichen...

 

Mal schauen, ob und wie ich mich damit in Zukunft auseinandersetzten kann. Jetzt werde ich in den  Geschichtsunterricht eilen. Es ist halb zehn Uhr morgens, ich bin schon seit 6 Uhr auf den Beinen, bereits einen Kilometer geschwommen und habe die Ruhe beim frühen Frühstück genossen. Der Tag hat zweifelsohne Potential!

 

 

Angelika

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