Staying Alive

Unmittelbar nach dem Öffnen der Tagebuchfunktion dieser Homepage drängt sich mir das fettgedruckte Wort "Entwurf" auf. Nicht nur ein "Entwurf" sondern gleich drei tief schwarze, Unvollständigkeit speiende "Entwurf" - ich habe in den vergangenen Wochen häufig entworfen und genau so oft wieder verworfen. An manchen Tagen bin ich schon an der Überschrift - gescheitert, möchte ich fast sagen. Aller Anfang ist schwer. Wer weiß das nicht. Als besonders schwierig gestaltet sich alles Anfangen wenn die eigenen Erwartungen jede Inspiration schon im Keim ersticken weil sie "nicht gut genug" ist, nicht förderungswürdig, mit zu wenig Potential, nicht vielversprechend genug. Ich kann diese Einstellung immer wieder an mir selbst beobachten, aber sie scheint auch ein Phänomen zu sein, das tief in den Köpfen so vieler verankert ist, dass man es fast schon einen Teil der Gesellschaft nennen könnte.

 

Im Wikipedia wird Gesellschaft vom Standpunkt der Soziologen aus als "eine durch unterschiedliche Merkmale zusammengefasste und abgegrenzte Anzahl von Personen, die als soziale Akteure miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt interagieren" definiert.

 

Demnach bilden also auch Israelis und Palästinenser eine einzige Gesellschaft, zusammengefasst durch ihr Interesse an der selben Region, unvermeidbare Interaktion miteinander und Beziehungen zu den selben Nachbarstaaten, Arab-Israelis wie meinen Mitschüler Michael. Ganz offensichtlich trennen sie Sprache, ethnische Abstammung, Religion und Lebensumstände. Eine duale Gesellschaft. Auch in dieser Gesellschaft ist das Anfangen zum Problem geworden, und das in vielerlei Hinsicht. Die Vorbereitungen für einen Höhepunkt im World Today- Jahr, ein World Today zum Thema „Israel-Palestine Conflict today and tomorrow“ laufen.

 

Da ist die Frage "Wer war hier zuerst?", und da wir schon als Kinder lernen, dass der erste in der Reihe zuerst bedient wird (was ja bekannermaßen zu Wettläufen und gar Rangeleien führt - bei uns zuhause häufig, wenn es darum geht, wer auf dem Beifahrersitz fahren darf...) erwarten viele Konfliktbeteiligte immer noch, mit der Poleposition im "Heiligen Land" eine Aufenthaltsgenehmigung gleich dazu zu bekommen. 

 

Dann ist da die Frage "Wer hat angefangen?" Meine Eltern haben irgendwann aufgehört, sich dafür zu interessieren, wer den Streit angefangen hat, denn zu häufig gestaltet sich das Beantwoten dieser Fragestellung als sehr unbefriedigend und sogar kontraproduktiv. Mein Bruder und ich hatten die Diskussion mehr als nur ein Mal und kamen in den härtesten Fällen zu der Einsicht, dass schlichtweg die Geburt des Anderen der Ursprung allen Übels gewesen sei. Gut, dass wir mitlerweile wichtigere und inspirierendere Gesprächsthemen gefunden haben... :-) 

 

Schließlich fragt man sich: "Wie und wo mit dem Aufräumen anfangen?"Jeder kennt die Antwort, die so charmant im Sprichwort "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!" verpackt ist. Eine der für mich berührendsten und faszinierendsten Erlebnisse hier am College ist die Annäherung der Secondyears aus diesen beiden verfeindeten Gruppen. Aseel (Palästina) und Astar (Israel) hatten bis weit in das erste Schuljahr hinein Probleme, den Konflikt miteinander zu diskutieren. Astar, der ich persönlich als Freundin näher stehe als Aseel, meinte bei einem Teestündchen irgendwann einmal, dass sie und Aseel einfach nicht genug faktisches Wissen hätten, um wirklich effektiv argumentieren zu können. Mittlerweile haben die beiden die Israel-Palestine Activity gegründet und zeigen regelmäßig Filme oder organisieren Diskussionen und Informationsveranstaltungen zu "ihrem" Thema. Vorgestern haben wir einen israelischen Dokumentarfilm linker israelischer Aktivisten gesehen, der besonders für Araber gemacht ist und zeigt, dass es innerhalb Israels durchaus Bewegungen gibt, die gegen die Militärpflicht für jeden Israeli, die "Kolonialisierung" und Kontrolle palästinensischer Gebiete durch israelische Siedlungen sind. Als Deutsche bin ich die Unterstützung Israelischer "Verteidigungsmaßnahmen" seitens der Mainstreampolitik zuhause gewöhnt. Ich bin sehr dankbar für die anderen Meinungen und die neuen Blickwinkel, die ich hier am College immer wieder vorgesetzt bekomme. Es ist nicht die Absicht meiner beiden engagierten Coyears, eine Lösung für den Konflikt zu ersinnen. Astar kommt ohnehin aus einem sehr liberalen, politisch linkem Elternhaus und kann Aseel in vielen Gesichtspunkten nachvollziehen, vielleicht sogar zustimmen. Was für die beiden viel wichtiger ist, ist ein Austausch von Informationen, von Ideologien, Dogmen, die zuhause einfach so hingenommen und nicht weiter hinterfragt werden. Die Lage in ihrer Heimat ist so verkorkst, dass eine Lösung kaum denkbar ist, aber die Kommunikation, die die beiden mit der Rückkehr nach UWC daheim kultivieren könnten, ist ungemein wichtig und für die Lösung des Israel-Palestina Konflikts unverzichtbar!

 

Neben diesem Thema habe ich mich in den vergangenen Wochen, auch anlässlich des Holocaust Gedenktages, mit deutscher Geschichte befasst und den sehr ergreifenden, angreifenden Film „Schindlers Liste“ gesehen. Ich erinnere mich, vor gut einem Jahr in einem Tagebucheintrag auch über Holokaustfilme geschrieben zu haben, über die schauspielerische Darstellung von Nazismus und Hitlerdeutschland. Am College werde ich von Mitschülern immer wieder, nicht täglich aber doch wiederholt, mit diesem Thema konfrontiert, sei es durch Hitlerparodien oder Nazi-Witze. Die internationale Jugend sagt sich scheinbar zunehmend los von den psychologischen Effekten einer Massenvernichtung von vor 60 Jahren. Was wird das Kollektivgedächtnis also in 20 Jahren sein? Der Holocaust wird schlicht eine Zahl? 6 000 000. Ist das alles? Er wird komprimiert zu einem fast technischen Ablauf, einer puren Aneinanderreihung von Handlungsschritten? Zu gewissem Maße ist er es doch schon. Im Geschichtsunterricht lernen wir manches in Zeitstrahlformat. 1933 – 1939 – 1941 – 1945. Was kann man denn von einer Generation erwarten, die mit Genmanipulation groß wird und Facebook, also ein ganz neues Bild von Leben und menschlicher Interaktion gewinnt? Ich bin mir sicher, dass auch der Holocaust wie komprimierte Musikdateien an Tiefe verliert. Dass ich jedoch mit einer Jüdin einen Film über gemeinsame, nie selbst gelebte Vergangenheit sehen kann ist das, was Geschichte greifbar und wertvoll macht.

 

Der Geschichtsunterricht hält mich nach wie vor auf Trab. Massen an Arbeitsblättern gilt es zu lesen, viele Zusammenhänge müssen nicht nur wahrgenommen sondern auch verstanden und gespeichert werden. Stalins Russland 1924-1953, Deutsche Geschichte von 1917-1989, erster Weltkrieg mit seinen Ursachen und Folgen, zweiter Weltkrieg, kalter Krieg in Europa und Asien, das Entstehen von Einparteistaaten, Spanischer Bürgerkrieg, Mussolinis Italien. Noch Fragen? Mit Blick auf die Examen scheint es unmöglich, sich diesen Berg an Informationen „einzuverleiben“ und hier sehe ich mich immer wieder mit dem Problem des Anfangens konfrontiert. Gestern habe ich es endlich geschafft und mich für das Mindmap-Prinzip entschieden. Sobald die erste Din A3 Seite fertig ist, werde ich ein Foto davon ins Netz stellen.

 

Vor gut einer Woche war es für Secondyears wieder Zeit für Projekttage. Während die Firstyears sich mit den Grundlagen der ersten Hilfe vertraut machten, habe ich zusammen mit einem Iraner, einer Schwedin, eines Kosovaner, einem Gahnesen, einer Nepalesin und einer Amerikanerin eine Idee in die Tat umgesetzt, die schon lange in den Köpfen engagierter Lehrer und mehreren Schülergenerationen herumgeisterte. Die Spannbreite an Vorwissen, mit dem die Schüler an ein UWC kommen betrifft nicht nur ihr faktisches Unterrichtswissen sondern ganz besonders auch ihr methodisches Wissen, Wissen über Lernmethoden. An meinem ehemaligen Gymnasium in Bielefeld wurde der Methodikunterricht ganz gezielt in der Unter- und Mittelstufe eingeführt. Dort habe ich gelernt, dass ein Leistungsmaximum nach gut 45 Minuten konzentriertem Arbeit überschritten wird, wie man sich schrittweise auf Klausuren vorbereitet und dass jeder Mensch von unterschiedliche Sinne schwerpunktmäßig Gebrauch macht, wenn er sich etwas effektiv lernt. Viele meiner Mitschüler hier am College haben von solchen Dingen noch nie etwas gehört. Die Lehrmethoden der so unterschiedlichen Lehrer sind auch für mich immer wieder neu und für uns alle kommt hinzu, dass das Leben in einem Internat konzentriertes Arbeiten in vielen Situationen schwierig macht. Es ist also außgesprochen wichtig, sowohl Schüler als auch Mentoren und Lehrer Material an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe sie die Herausforderungen des UWC-IB-Alltags meistern können. Während des dreitägen Projekts Anfang letzter Woche haben wir eine vierzigseitige Broschüre zusammengestellt, die Informationen zu einer Vielfalt an Themen, zum Beispiel Perfektionismus, Leseverständnis, Stressbewältigung vor Prüfungen und das Vermeiden von Ablenkungen, beinhaltet. Ich habe mich auf unser Gedächtnis konzentriert und die Möglichkeit, mich intensiv und ausschließlich mit Psychologie und der praktischen Anwendung theoretischen Wissens über unser Gehirn zu befassen ausgesprochen genossen. Die eigenständige Arbeit im Wohnzimmer meiner Mentorin (Tee und Trockenobst inklusive) hat mir gut getan.

 

Das so unglaublich ungemütliche Wetter der letzten Wochen hat mir aufs Gemüt geschlagen und mich angesichts der aufkommenden Prüfungen und dem scheinbar selbstverständlich damit verbundenem Druck zwischenzeitlich sehr klein werden lassen. Hinzu kommt, dass eine kleine Zahl an Mitschülern die UWC-Atmosphäre durch Mobbing und Stehlen teilweise ganz schön strapazieren. Als verhältnismäßig idealistischer UWC-Schüler enttäuscht und erschüttert mich die Einstellung mancher Kameraden sehr. Dass man aufeinander Acht geben muss, dass es tabu ist, frisch gebackenen Kuchen aus dem Ofen zu klauen oder geladene Diskussionen über das e-Mailsystem zu haben ist doch irgendwo selbstverständlich, oder?

 

Manchmal scheint UWC also tatsächlich nicht mehr als eine gewöhnliche Oberstufe zu sein. Nein, hier wird nicht an Wände oder Tische geschmiert, aber dafür werden andere Dinge sinnlos kaputt gemacht. Ich bin der Überzeugung, dass jeder hier seinen ganz persönlichen Teil zum Projekt beitragen muss, und das jeden Tag aufs Neue. UWC ist nichts, dass es schon so als vollständiges Etwas gibt. Es muss jeden Tag neu erschaffen werden, bedarf unermütlicher und alltäglicher Neudefinition. „Deine 2 Jahre UWC sind das, was du aus ihnen machst!“ Dieser Satz, ausgesprochen von einem Secondyear während meines Einführungstreffens bevor ich überhaupt einen Fuß in ein UWC gesetzt hatte, ist mir noch sehr präsent. Aber ich muss ihn ergänzend etwas abwandeln. „UWC als solches definiert sich durch deinen Beitrag während der 2 Jahre und darüber hinaus.“ Liebe UWC Bewerber! Ich denke an euch, die ihr über diese Homepage UWC etwas näher gekommen seid und nun in ein paar Tagen eure entscheidenen Auswahlgespräche führen werdet. Seid euch darüber im Klaren, dass UWC in seinem Idealismus niemals vollständig sein wird, sondern, und das hat Idealismus so an sich, durch eure Ideen und euer Handeln definiert ist. Ein Ideal entspricht nicht der Wirklichkeit. Man kann sich einem Ideal annähern und auch wieder davon entfernen. Jeder UWC-Schüler hat eine Fernsteuerung in der Hand mit einer bestimmten Reichweite und kann die Annäherung an ein Ideal beeinflussen. Bitte diese Fernsteuerung regelmäßig aufladen, Ersatzbaterien dabei haben, immer schön Funkkontakt halten und Störgeräuschen wenn nicht vorbeugen dann sie auf jeden Fall ausschalten!

 

xx Angelika

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Nils (Mittwoch, 09 Februar 2011 15:05)

    Liebe Angelika,
    im Namen aller meiner Mitbewerber um einen Platz an einem UWC möchte ich dir für diesen Blog danken. Als wir unsere Briefe gekriegt haben, in denen stand, dass wir am kommenden Wochenende zum Auswahlwochenende eingeladen wurden, hat es auch nicht lange gedauert, bis die erste Facebook-Gruppe gegründet war. mittlerweile haben wir 30 Mitglieder und es war tierisch witzig, festzustellen, dass wirklich ALLE deinen Blog gelesen haben und mindestens die Hälfte total begeistert davon war. ("Sollte ich Angelika mal treffen, will ich ein Autogramm haben!")
    In diesem Sinne kann ich nur nochmal sagen, dass dein Blog einfach super ist und uns enorm dabei hilft, uns UWC ein kleines bisschen vertrauter zu machen.
    Im Moment sind wir damit beschäftigt, die Firstyears, die bei Facebook zu erreichen sind, mit Fragen zu durchlöchern.
    Wir sind alle total aufgeregt und freuen uns auf das Auswahlwochenende 2011 in 2 Tagen :)

    Liebe Grüße von den potenziellen 0/1 - Years

    Nils :)

  • #2

    Bee (Montag, 14 Februar 2011 17:36)

    Hey
    Du kannst nicht zufällig diese Broschüre hiereinstellen. Ich lerne seit deri Wochen für diverse Prüfungen und bin buchstäblich mit meinem Latein am Ende.
    Danke und so
    xoxo Bee

  • #3

    Anne Terwitte (Montag, 21 Februar 2011 20:46)

    Liebe Angelika,

    danke für Deinen Blog. Es ist jedes Mal wieder sehr spannend, Deine gut formulierten Gedanken zu lesen. Es lässt mich innehalten, nachdenken und nicht zuletzt bewundern.

    Lustig, dass ihr Euch an das Methodenprojekt gemacht habt. Gerade vor Kurzem hing ich selbigen Gedanken im Zusammenhang mit UWC nach. Wenn auch alles erst zehn Jahre her ist, gehörte ich wohl noch zu einer Generation deutscher Gymnasiasten, die nix von Lern- oder Ideengenerierungsmethoden hörten. Ich musste bis zum Masterstudium (Mediation) warten, wo ich dafür umso mehr und tiefer in derlei eingeführt wurde und so richtig Freude an der Vielfalt gewonnen habe. Ganz sicher wird Eure Aktion Früchte tragen. Probier eine paar Lehrer oder 1st Years für die Idee zu gewinnen, so dass sie weiter getragen wird und vielleicht Methodenworkshops oder ähnliches eingeführt werden. Es wird vielen das Lernen erleichtern und versüssen!

    Inzwischen haben wir vor anderthalb Wochen die neuen deutschen UWCler ausgewählt (bei ihnen war ich übrigens begeistert von ihrem selbstverständlichen Umgang mit kommunikativen Methoden wie dem aktiven Zuhören etc... so war ich nich, damals, denkt es mich dann immer...). Es war ein schönes und spannendes Wochenende. Bei vielen hat wie oben zu lesen sicherlich dein Blog das Interesse und den Funken Begeisterung für UWC gezündet.

    Danke!
    Liebe Grüße aus Berlin
    Anne

    PS: Lass Dich von der Prüfungszeit nicht unter Druck setzen und nimm Dir Zeit, den Frühling in Flekke zu geniessen (der ist wohl noch ein paar Wöchlein hin, aber trotzdem)!